Der alte weiße Mann ist am Boden. Ihm gegenüber sitzt ein Kind. Die Augen aufmerksam aufgeschlagen lauscht es dem, was der alte weiße Mann da mit freundlicher Geste erzählt. Fast könnte man die Stimmen hören – so lebendig sitzen die beiden da im Neandertalmuseum. Die mit Puppen dargestellte Szene könnte sich tatsächlich unweit des Museums vor Jahrtausenden an der Düssel zugetragen haben. So gab man Wissen an die nachwachsenden Generationen weiter – durch Erzählen. Irgendwann wird das Kind selbst eine alte weise Frau oder ein alter weiser Mann geworden sein, die Wissen und Lebenserfahrungen an die Jungen weitergeben. Lange bevor durch die Erfindung der Schrift Wissen und Lebenserfahrungen dauerhaft und unabhängig von denen, die Wissen und Erfahrungen tragen, fixiert und überliefert werden konnten, waren es Erzählungen, die den Bestand und Erhalt erworbenen Wissens gewährleisteten. Es kann daher nicht verwundern, dass es in allen menschlichen Kulturen vielfältige Formen des Erzählens gibt, die teilweise uraltes Wissen, Denken und Erkennen aufbewahren – Mythen, Geschichten, ja auch Gedichte und Lieder sind lebendige Behälter eines Menschheitswissens, das von Generationen zu Generationen weitergeben wird. Bei der Weitergabe des Wissens spielen dabei die Großeltern oft eine wichtige Rolle. Gerade in früheren Kulturen war die Elterngeneration oft mit der Sicherung der familiären Existenz beschäftigt. Jagd, Ackerbau, Sammeln – all das waren mühsame und zeitraubende Tätigkeiten. Die Alten blieben am Ort und mit ihnen die Kinder. Es sind oft die Großeltern gewesen, die ihren Enkeln vom Leben erzählten und sie so auf die kommende Zukunft vorbereiteten. Was glauben Sie denn?
Erzählen heißt Erinnern. Das wurde gerade in diesen Tagen wieder deutlich, wenn in vielfältiger Weise der Befreiung von Auschwitz vor 75 Jahren gedacht wurde. Keine Dokumentation, keine Statistik, keine Ausstellung, kein Gedenken kann das unfassbare Grauen und die kaum vorstellbare Unmenschlichkeit, die in Auschwitz von Menschen durch Menschen erfahren, erlebt und erlitten wurde, so erinnern und vergegenwärtigen wie die Erzählungen derer, die dem Hass und der menschenverachtenden Ideologie derer ausgeliefert waren, die sich selbst zu Herrenmenschen ernannten. Noch gibt es sie, die Lebenszeugen, die erzählen können – und es ist gut, dass ihr Zeugnis filmisch dokumentiert wird, wie es etwa der Regisseur Steven Spielberg in der Shoah-Foundation getan hat. So wird das lebendige Zeugnis auch zukünftigen Generationen ein erzähltes Erinnern ermöglichen. Wie nötig das ist, dass in der Generation der Jungen das Vergessen beginnt. 75 Jahre sind eine lange Zeit, man müsse auch vergessen können, hört man immer häufiger. Wer vergessen möchte, verleugnet aber nicht nur das Leben. Er liefert sich einer selbstgewählten Dummheit aus, weil er glaubt, das Vergangene hinter sich lassen zu können. Eine Menschheit, die in der Vergangenheit so gelebt hätte, hätte die Höhlen wohl nie verlassen. Eine Menschheit, die aufhört, sich heute durch Erzählen zu erinnern, ist auf dem besten Weg, in die Höhlen zurückzukehren.
Wie sehr sich das erinnerungslose Denken der Gegenwart wieder verdunkelt, zeigt nicht nur der Anschlag auf die Synagoge von Halle am 9. Oktober 2019. Der Holocaust traf vor allem die Juden in Europa. Es ist ein bleibender Skandal, wenn Synagogen gerade in Deutschland beständig von Polizei geschützt werden müssen. Hat man denn nichts gelernt in diesem Land, das einst dichtete und dachte? Offenkundig sind manche nicht mehr dicht im Dach! Wie oft will man noch vergessen, dass das Christentum, dessen sich man doch im Abendland so gerne rühmt, aus dem Judentum heraus entstanden ist. Wie oft will man noch verleugnen, dass das Christentum, wie der Apostel Paulus sagt, als Zweig auf den Stamm des Judentums aufgepfropft ist:
„Wenn du dich aber rühmst, sollst du wissen: Nicht du trägst die Wurzel, sondern die Wurzel trägt dich.“ (Römer 11,18)
Am kommenden Freitag feiert die Kirche das Fest „Darstellung des Herrn“. Dann wird die Erzählung in den Gottesdiensten verkündet, wie Maria und Joseph nach jüdischem Gebot Jesus in den Tempel bringen, um ihn als Erstgeborenem Gott „darzubringen“. Die Erzählung im Lukasevangelium legt Wert darauf, dass alles im Einklang mit den Weisungen geschieht, die Gott dem Volk Israel gegeben hat. Dann treten Simeon und Hanna auf. Ein alter weiser Mann und eine alte weise Frau. Sie geben ihre Lebenserfahrung weiter – nicht als Beharren in Vergangenem, sondern mit Blick auf eine Zukunft, in der das Leben ohne sie weitergehen wird. Simeon sagt:
„Nun lässt du, Herr, deinen Knecht, wie du gesagt hast, in Frieden scheiden. Denn meine Augen haben das Heil gesehen, das du vor allen Völkern bereitet hast, ein Licht, das die Heiden erleuchtet, und Herrlichkeit für dein Volk Israel.“ (Lukas 2,29-32)
Diese Erinnerung auch heute noch zu erzählen ist wichtig. Sie erinnert, dass die Herrlichkeit bei Israel bleibt, jetzt aber auch die Nichtjuden erleuchtet. Wer daran rüttelt, löscht das Licht aus. Dann wird es dunkel in den Höhlen werden. Ihr Großeltern, erzählt euren Enkeln, was geschieht, wenn es dunkel wird und kein Stein mehr auf dem anderen bleibt. Erzählt es um der Erinnerung willen.
Dr. Werner Kleine
Erstveröffentlicht in einer gekürzten Version in der WZ Wuppertal vom 31. Januar 2020
Author: Dr. Werner Kleine
Dr. Werner Kleine ist katholischer Theologe und Initiator der Katholischen Citykirche Wuppertal. Er tritt für eine Theologie ein, bei der der Mensch im Mittelpunkt steht.
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